Thread: Mutter sein ist hochpolitisch
Wenn ein Kind unterwegs ist, bekommen die werdenden Eltern viele Ratschläge und Warnungen mit auf ihren Weg. Man berichtet ihnen vom Schlafmangel, dem Ende der Unabhängigkeit, der neuen Beziehungsdynamik, von Kinderkrankheiten und Babybrei an der Tapete. All diese Dinge bewahrheiten sich vermutlich früher oder später in den meisten Familien. Dennoch geht die größte Veränderung im Leben frischgebackener Eltern womöglich gar nicht von dem kleinen Wesen aus, das fortan ihren Alltag bestimmt. Sondern vielmehr von einer Gesellschaft, die glaubt, Mütter und Väter permanent be- und verurteilen zu müssen. Insbesondere Frauen stehen im Zentrum der Kritik. Klar, Schwangerschaft und Stillen sind Menschen mit Uterus vorenthalten. Größer als die Biologie scheint jedoch das tradierte, wenn auch glücklicherweise bröckelnde Narrativ zu sein, dass Frauen keine selbstständigen Wesen mehr sind, sobald sie Mutter werden. Sie verlieren ihre Identität und werden häufig nur noch über das Kind und ihrem Verhalten gegenüber diesem definiert. Und zwar – und das ist hier der Punkt – auch und insbesondere von anderen Frauen!
Der Twitteruser Malte Welding und seine Frau, die Psychologin Dr. Carlotta Welding, sind Eltern und haben mit dieser Dynamik Erfahrung gemacht. Pünktlich zum Muttertag am 9. Mai berichtete Malte Welding seinen Followern von einer Situation, die sich kürzlich ereignet hat. Dies ist sein Thread.
Zum Muttertag. Thread
Vor einigen Wochen hat meine Frau ein Live-Interview per Video gegeben. Währenddessen musste sie für einige Minuten das Baby, zu dem Zeitpunkt vier Monate alt, stillen.
Hier ein paar Kommentare zu dem Video.
„Diese Kinder(still)einlage ist einfach unmöglich“— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
„(…) der ganze Habitus dieser Frau. :-(( (Für mich: zu sehr „typisch Weibchen“)
Wirkt total „unreif“, fast pubertär (vor allem die Gestik, wie diese dauernde Haare zurückwerfen oder – streichen). Ich hatte also Schwierigkeiten, sie ernst zu nehmen als Wissenschaftlerin.“— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
„Das Baby quakt da dazwischen, was für mich bei einer eigentlich wissenschaftlichen Sendung überhaupt und gar nicht geht.“
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
„Na ja, wenn ich gerade im Interview bin, muss das Baby halt mal warten? Oder hätte man dann nicht einen Schnitt machen und danach erst weiter aufzeichnen können? Ach, egal. Komische Zeiten heute.“
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Ein Kommentator wandte ein, dass es sich vielleicht nicht anders einrichten ließ.
Darauf kam das hier:— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
„Wobei sich bei diesem Typus Frau bei mir stets und sofort das Gefühl beschleicht, dass sie eine dieser dominanten Kampfmuddis ist, die ihre Umgebung per Babyterror „umerziehen“ möchte. Das Baby also Mittel zum Zweck sein könnte.“🙂“
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Alle Kommentare kamen von Frauen. Und das ist deine Situation als Mutter, wissenschaftlich untersucht und belegt: Du giltst als Idiotin. Als Weibchen, als Kampfmutti, nicht ernstzunehmen als Wissenschaftlerin.
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Wann und wie du dein Baby fütterst, ist Thema. Ob du es fütterst, ist Thema. Ob du dir Zeit für das Kind nimmst oder es betreuen lässt, ob du es zwei Jahre stillst oder zwei Wochen – jeder zerbricht sich deinen Kopf.
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Jeder urteilt über dich. Und das Urteil fällt nicht freundlich aus. Mütter gelten, auch das ist belegt, als dümmer.
— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Klar, ihr liebt eure Mutter wahrscheinlich.
Aber stellt ihr Mütter ein? Könnt ihr euch vorstellen, dass eine stillende Frau mehr ist als ein Getränkeautomat? Oder eine Frau, die nicht stillt, trotzdem ihr Baby liebt?— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
Mutter sein heißt: Einen Scheiß auf die Leute geben.
Mutter sein ist dennoch: hochpolitisch.
Fröhlichen Mutterkampftag an alle!— Malte Welding (@maltewelding) May 9, 2021
So kommentieren andere User:innen:
Eine Mutter, die während einer Videokonferenz ihr Kind stillt und dafür von anderen Frauen angegangen wird! Viele User:innen zeigten sich empört von dieser geschilderten Situation. Und doch scheint sie keineswegs ungewöhnlich zu sein. Unter den Kommentaren fanden sich leider auch solche, in denen insbesondere Mütter von ähnlichen Erfahrungen berichten. Wir haben wie üblich die besten Kommentare zusammengefasst.
Danke, dass du das so ausführlich beschrieben hast. Du sprichst da soviele Probleme an. Depersonalisierung, Diskriminierung, Bevormundung, Herabsetzung um nur einige zu nennen. Manchmal fühle ich mich wie im Mittelalter und nicht in einer aufgeklärten Gesellschaft.
— ArbmedNurse (@ArbmedNurse) May 10, 2021
Die Kommentare alleine finde ich schon heftig, dass die jedoch überwiegend von Frauen verfasst wurden, macht mich fassungslos.
— not innocent72 (@not_innocent72) May 10, 2021
Mich überrascht das nicht. Als junge Mutter habe ich keine Männer erlebt die mich kritisiert und zurecht gewiesen haben, dafür sehr sehr viele Frauen. Und je weniger man ins Weltbild passt, desto härter fällt das Urteil aus
— Leyla_femme (@Leyla_femme) May 11, 2021
Wenn Menschen so derart vom fachlichen/ sachlichen Inhalt eines Interviews weg – auf etwas von aussen abgelenkt sind, scheint mir das Problem bei diesen Menschen, nicht bei der stillenden Wissenschaftlerin zu liegen.
— Andrea Zach Yoga (@zach_andrea) May 10, 2021
Lol! Also ich hab drei Kinder und das was ich schnell gelernt habe: mach es so, wie du denkst und hör auf keine Nebengeräusche. Man kann es sowieso nie allen recht machen und muss das nicht. Recht machen sollst es dem Kind, das hat sie ja wohl getan! Well done!
— Iris Diener (@iris_colano) May 10, 2021
Fazit:
Hand auf’s Herz: Vermutlich haben die meisten von uns schon einmal jemanden für den Umgang mit ihren oder seinen Kindern verurteilt. Und zwar häufig, ohne die Beteiligten oder den Kontext zu kennen. Dabei weiß vermutlich jede:r, der oder die regelmäßig mit Kindern zu tun hat, dass man das Verhalten der Kleinen nur bedingt steuern kann und irgendwann unweigerlich an die eigenen Grenzen stößt. Ob es an der stark emotionalisierten Thematik liegt oder schlichtweg daran, dass wir uns so sehr daran gewöhnt haben, einander zu kritisieren, lässt sich natürlich schwer sagen. Oft steckt dahinter vielleicht auch die eigene Angst, von einer Gesellschaft, die Frauen für jedes Verhalten an den Pranger stellt, gerichtet zu werden. Mit Sicherheit finden sich auch unter diesem Beitrag Kommentare, in denen Frauen über Frauen urteilen. Dabei ist diese Spaltung in „ich gegen sie“ überflüssig und kontraproduktiv. Um dieses Verhalten zu überwinden, muss man sich den Mechanismus dahinter bewusst machen. Eltern sein ist hart genug, lasst es uns nicht noch härter machen! Übrigens, falls ihr Lust habt, von anderen Eltern zu lernen, probiert es doch mal mit diesem Thread: