Thread: Ich musste tanken
Ein Fünftel der Deutschen Bundesbürger hat im Jahr weniger als 16.300 Euro netto zum leben. Das sind monatlich etwa 1.360 Euro und liegt damit nur knapp über der derzeitigen Armutsschwelle von 1.250 Euro pro Monat. Diese alarmierenden Zahlen hat das Statistische Bundesamt heute für das Jahr 2021 veröffentlicht. Überdurchschnittlich oft in dieser Einkommensgruppe anzutreffen sind dabei vor allem Alleinerziehende, Singles, Rentner und Haushalte mit drei oder mehr Kindern. Da diese Menschen sowieso schon am Limit ihrer finanziellen Möglichkeiten sind, stellt sie die aktuelle Energiekrise vor das schier unlösbare Problem, die künftigen Abschläge für Gas und Strom nicht mehr bezahlen zu können. Dass die Inflation die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat, verschärft die Situation noch zusätzlich.
Es ist zu erwarten, dass sich die Anzahl der auf Unterstützung Angewiesenen trotz der Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung in diesem Jahr noch deutlich vergrößern wird. Dafür sprechen auch die Anmeldungen beziehungsweise vielmehr die Anmeldestopps bei den örtlichen Tafeln und anderen gemeinnützigen Organisationen. Und da nun der Winter vor der Tür steht, wollen wir an jeden Einzelnen von euch appellieren, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und auf euer Umfeld acht zu geben. Manchmal reicht schon eine kleine Geste aus, um einen Unterschied zu machen. Unser Lieblingstwitterarzt @narkosedoc geht im nun folgenden Thread mit gutem Beispiel voran. Aber lest selbst.
True Story. Ich musste tanken.
An der Zapfsäule gegenüber hält ein uraltes Auto. Motorhaube steht halb auf, Kotflügel kaputt, Felge zerdötscht.
Es steigt eine ältere Dame aus, schütteres Haar, stark gebrauchte Kleidung die offensichtlich länger nicht gewaschen wurde.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Sie geht mühsam ums Auto. Stütz sich Meter für Meter auf das Auto.
Sie tankt. Nach 5 Sekunden stoppt sie das erste Mal. Dann tankt sie weiter, guckt dabei ganz genau auf die Zapfsäule.
Ich gehe in den Kassenraum.
„Ich habe die 3.“
Ich zahle.
„Und die 4 zahle ich auch.“— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
10€. Die Frau hat für 10€ getankt.
Ich war sehr nervös. Keine Ahnung warum. Polytrauma versorgen kann ich irgendwie besser.
Eine ungewohnte Situation. Ist das jetzt übergriffig? Darf man das?
Ich sage der Kassiererin, sie soll der Dame bitte ausrichten, es wäre schon bezahlt.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Es war die Gelegenheit ihre Rechnung zu übernehmen ohne dass sie etwas dagegen sagen konnte. Sie soll sich nicht deswegen schämen, auch wenn man mit so einer Aktion natürlich Gefahr läuft, dass man es doch tut.
Es ging alles sehr schnell. Egal, dachte ich mir. Mach! Jetzt!— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Die Kassiererin ist jedenfalls auch irritiert. Ich gehe raus, als die Dame nichts ahnend rein kommt. Ich berühre sie aus versehen leicht am Ärmel.
Wir begegnen uns für eine Zehntelsekunde. Dann geh ich zum Auto und fahre los.
Im Auto ärgere ich mich.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Ich hätte ihr einen Tankgutschein kaufen sollen!
Ich war in dem Moment so aufgeregt, dass ich das vergessen hab. Ich ärgere mich.
Langsam denke ich darüber nach. 10 Euro. Nur 10€!
Klar, wir haben den 28. des Monats.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
„Ja, aber die fährt ja ein Auto, so arm kann sie nicht sein!“
Doch man, kann sie.
Und es ist nicht meine Aufgabe über andere zu urteilen. Die frau war offensichtlich in Not. Sehr sicher finanziell, wahrscheinlich auch gesundheitlich, oder eben beides.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Wahrscheinlich ist das alte Auto ihre einzige Möglichkeit irgendwo hin zu kommen. Sie ist so schlecht zu Fuß, sie käme wahrscheinlich gar nicht bis zur Bushaltestelle.
Und ich bin kein Autoprofi aber ich denke viel mehr als 200€ bekommt man für so eine Rostlaube sowieso nicht.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Ist ja auch egal, sie braucht offensichtlich dieses Auto.
Und hatte nur noch 10€ für Benzin.
Armut ist echt ein Elend.
Und naja vielleicht bekommt ihr ja heute oder morgen oder wann anders eine Chance auch mal jemandem was Gutes zu tun.— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Für viele wird das Geld jetzt sehr knapp – nicht erst zum Monatsende.
Wenn alle ein bisschen mehr aufeinander achten, ist allen geholfen.
Und vielleicht seid ihr ja cooler als ich und denkt noch an einen Tankgutschein oder so 😌— Intensivdoc (@narkosedoc) September 28, 2022
Das sagen andere User:
Wir finden das toll. Seht ihr das auch so? Hättet ihr euch ebenso verhalten? Hinterlasst uns doch einen Kommentar oder berichtet uns von euren Alltagssituationen, in denen eine eurer Gesten den Unterschied gemacht hat. Was die Leserinnen und Leser dieses Threads zu sagen hatten, erfahrt ihr jetzt:
Danke fürs Hinsehen und Machen. Denn DAS ist es: Machen! Jetzt!
Ja: Haters gonna hate. Sch… drauf.
Und: für 10 Euro kann das kleine Auto jetzt die eine dringende Strecke fahren. Und dann ist ja auch bald der 1.
Nicht ärgern. Freuen, dass du‘s gesehen hast und helfen konntest!— Aenni (@_Aenni_) September 28, 2022
Ich könnte Dich grade knutschen, so toll find ich das ❤️
— TanteLuse (@SuseBusch) September 28, 2022
Ganz ehrlich? Das reicht doch auch erstmal. Du unterstützt, das zählt. Und wenn du für dich irgendwann sagst: es geht mehr, ist auch super. Aber wenn jeder eine „Patenschaft“ übernehmen würde, der es kann, hätten wir keine Sorgen mehr
— Catz’n’Horses (@catz_horses) September 28, 2022
„Und alle anderen auch.“
Genau das! Ich hätte in dem Moment auch nicht daran gedacht. Nun ist es gespeichert – für welche Gelegenheit auch immer. Muss ja nicht nur die Tankstelle sein…— Desillusion ist gerade mein zweiter Vorname… (@EbenKurz) September 28, 2022
Flaschensammler nicht im Müll Wohlen müssen.
Am Samstag sind wir zusammen in die Stadt gefahren. Und meine Mutter nahm eine Tüte voller Pfandflaschen mit, die sie auch gleich an den Mann bringen konnte.
Es gibt so viele solcher Situationen.
Danke, das Du nicht weg geschaut has
— Maroona (@Maroona1703) September 28, 2022
vielen Dank für diese Geschichte, die mich sehr berührt hat. Darf ich darauf hinweisen, dass @sorgeweniger immer wieder Tankgutscheine benötigt, damit Menschen, die #IchBinArmutsbetroffen zur Arbeit, zur Kita oder zum einkaufen fahren können ? Danke für deine Zeit
— Beate Behrens #IchBinArmutsbetroffen (@Weltenfrau) September 28, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Da wir gerade beim Thema sind, schaut doch hier noch rein: