Thread: Ich habe mich häufig gewundert, warum ich als Patient so schnell Termine bekomme
Irgendwie wissen wir doch alle, dass unser Gesundheitssystem nicht fair ist. Es ist längst Routine, dass bei einer Terminanfrage in einer neuen Praxis zuerst nach dem Versicherungsstatus gefragt wird – und erst danach nach den Beschwerden. Klar, auch der Medizinsektor ist wirtschaftlichen Überlegungen unterworfen. Privatversicherte versprechen der Praxis höhere Einnahmen als Kassenpatient:innen, weswegen bisweilen die Diagnostik ein wenig aufwendiger gestaltet wird und größere Mühen betrieben werden, diese lukrativen Patient:innen an die Praxis oder das Krankenhaus zu binden. Doch der Versicherungsstatus scheint nicht der einzige Faktor zu sein, der bezüglich der Qualität der Behandlung eine Rolle spielt. Rassismus, Sexismus und ein Bildungs-Bias, der Menschen höherer Ausbildung oder Berufen mit größerem Sozialprestige mehr Privilegien zugesteht, sind in unserer Gesellschaft tief verankert. Es ist also nicht ganz überraschend, dass auch immer wieder der Vorwurf laut wird, dass Mediziner und Medizinerinnen nicht nur nach sachlichen Kriterien arbeiten, sondern Vorurteilen unterworfen sind, die sich in der Behandlung widerspiegeln. Der Mediziner und Kinderpsychiater Oliver Dierssen hat zu diesem Thema eigene Erfahrungen gemacht und diese auf den Punkt gebracht. Dies ist sein Thread.
Ich habe mich häufig gewundert, warum ich als Patient so schnell Termine bekomme und dann meist eine Diagnostik, die ich als übertrieben empfinde.
Es ist kein Zufall, das weiß ich jetzt.
Es liegt an meiner privilegierten Position als promovierter Arzt, als Mann und als Weißer.— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Die Psychologin mit arabischen Wurzeln, die trotz schwersten Schwangerschaftserbrechens keine Krankschreibung erhält.
Der Ergotherapeut mit osteuropäischem Nachnamen und Armparese, der vom Hausarzt ohne Diagnostik als „Hypochonder“ bezeichnet und nach Hause geschickt wird.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Die armenische Krankenpflegerin, die mit Haushaltschemikalien im Auge und stärksten Schmerzen beim Augenarzt ohne Untersuchung abgewiesen wird.
Der „mediterran“ aussehende Lehrer, der trotz kardialer Beschwerden & Schlappheit nach Infekt drängeln muss, um EKG & Labor zu bekommen
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Wenn ich zum Arzt gehe, bekomme ich meist das volle Programm. Ultraschall, Röntgen, Labor, Facharztüberweisungen.
Gemeinsamer Nenner: Ich brauche nicht lange danach fragen, und die Untersuchungen sind meist ohne auff. Befund. Ich bin gesetzlich versichert.
Es liegt am Privileg.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Es ist ein ungeheures Privileg, selbst Arzt zu sein. Sprechstundenhilfen finden meist ein zeitnahes freies Terminchen. Kolleg*innen sind meist sehr freundlich, interessiert, nehmen sich Zeit, nehmen mich ernst. Finde ich prima. Kaum vorstellbar, dass es nicht allen Pat. so geht.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Es ist scheinbar auch ein Privileg, ein männlicher Patient zu sein. Jeder weiß ja: Männerkörper funktionieren stets und zuverlässig. Keine störenden Hormonschwankungen, keine Überempfindlichkeit, kein Schwangerschaftsgedöns.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Natürlich ist es (nicht allein) als Patient ein großer Vorteil, einen deutschen, regional verwurzelten Namen zu haben, und ein als „deutsch“ gelesenes Erscheinungsbild. Mein Migrationshintergrund? Fällt nicht auf, so lange Bart nicht zu lang und Besonnung nicht zu intensiv sind.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Dass man als nicht-deutsch gelesener Mensch im Gesundheitssystem einen großen Nachteil hat, ist inzwischen Allgemeinwissen: Die Begriffe Morbus mediterraneus, Morbus Balkan, Morbus Bosporus uvm. sind nichts anderes als pseudowissenschaftlich klingende rassistische Schimpfwörter.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Diese Probleme sind Einzelfälle, doch gibt es eine Regelmäßigkeit. Die übergroße Mehrheit der ärztlichen Kolleg*innen behandelt nach bestem Wissen & Gewissen. Ich bitte Sie, sich diesen Thread dennoch zu Herzen zu nehmen und Privilegien & Benachteiligungen zu reflektieren.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Dieser Thread richtet sich an Pat., die aus o.g. Gründen weniger oder gar nicht privilegiert sind im Gesundheitssystem. Teilt eure Erfahrungen, seid hartnäckig, vertraut euren Instinkten. Besteht auf Diagnostik, Krankschreibungen, Überweisungen. Wechselt notfalls die Behandler.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Diesen Thread widme ich dem anlass- und ergebnislosen Augenultraschall im Winter 2019/20, der mir die Ungleichverteilung der medizinischen Ressourcen im wahrsten Sinne vor Augen geführt hat.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) June 10, 2021
Das sagen andere User:innen:
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags ist der Thread von Oliver Dierssen nicht mal 24 Stunden online und hat bereits Hunderte Kommentare gesammelt. Das Thema trifft ganz offensichtlich einen Nerv. Vermutlich auch deshalb, weil jede:r zustimmen würde, dass Medizin blind gegenüber Geschlecht, Herkunft oder soziokulturellen Faktoren sein sollte. Krankheit ist grausam und jeder Laie ist der behandelnden Person ausgeliefert. Es besteht eine zum Teil riesige (fachbezogene) Wissenskluft zwischen Patient:in und Mediziner:in und für viele, die sich medizinische Hilfe suchen, ist allein der Vertrauensvorschuss, den sie bei Anamnese und Untersuchung leisten müssen, eine große Herausforderung. Umso trauriger, dass viele User:innen die Erfahrungen des Autors bestätigen können. Wir haben die treffendsten Kommentare zusammengefasst:
Das gibt es mit vielen Vorurteilen. Als ich total fertig und krank in Metalshirt und Jogginghose zum Arzt ging war er sehr zurückhaltend, als ich nach der Arbeit noch im Anzug da war vermutete er von alleine ob es nicht am beruflichen Stress läge und bot AU für eine Woche an…
— Chris (@Draugr) June 10, 2021
Ich nutze normalerweise meinen Dr. phil. nicht außerhalb der Wissenschaft. Aber ich habe ihn auf meiner Versichertenkarte stehen. Weil ich damit respektvoller bei Ärzt*innen behandelt werde. Dieses Privileg sollte es nicht geben. Alle sollten gleich respektvoll behandelt werden.
— Dr. Stephanie Seul 🇪🇺 (@stephanie_seul) June 10, 2021
Mein Mann und ich sind beide chronisch krank, haben denselben Hausarzt. Wenn er von seinen Terminen zurück kommt, hat er problemlos Rezepte, Überweisungen, Verordnungen erhalten, um die ich monatelang kämpfen muss.
— Hauptsachgsund (@hauptsachgsund) June 10, 2021
Oh ja. Ich habe als Frau schon öfter erlebt, dass meine Schmerzen nicht ernst genommen wurden, ein männlicher Arzt hat bei der Krankenkasse sogar Mal bei der Abrechnung angegeben, dass ich eine psychische, hypochondre Angststörung (o.Ä.) habe, weil ich ein Medikament nicht ohne
— Sonne (@sannenshine) June 10, 2021
Besprechung der NW & alternativen nehmen wollte. Dürfte ich dann schön bei der Krankenkasse melden, damit ich diese unbegründete Diagnose nicht bei Verbeamtung melden muss.
Und ich bin weiß mit zwar nicht deutschem, aber europäisch klingendem Namen.
— Sonne (@sannenshine) June 10, 2021
D. kann ich als behinderte Frau nur untermauern. Falsche Diagnosen, keine Diagnosen, weil bei mir ja nicht ist wo es hingehört, offene Ignoranz & Versorgung in der Notaufnahme, nachdem nichtbehinderte Fälle fertig waren. Und ich bin privilegiert, weil ich mich verbal wehren kann.
— annton beate schmidt (@tinyfishbowl) June 10, 2021
Mehrere User:innen wiesen in den Kommentaren darauf hin, dass in ihren Praxen alle Patient:innen gleichbehandelt werden. So löblich dies ist, muss man sich dennoch klarmachen, dass Vorurteile oft unterhalb der Bewusstseinsschwelle wirken. Wir alle sind Menschen und menschlichen Stärken und Schwächen unterworfen. Sich Sympathien und Antipathien bewusst zu machen, kann helfen, soziale Mechanismen zu durchbrechen.
Dieser Thread ist deswegen so wertvoll, weil hier jemand auf sein eigenes Privileg aufmerksam macht, statt es stillschweigend zu genießen oder gar abzustreiten. Falls ihr Lust auf einen anderen Thread habt, in dem es ebenfalls um Vorurteile geht, möchten wir euch diesen ans Herz legen: