Am Sonntag wurde in Sonneberg in Thüringen in einer Stichwahl der erste AfD-Landrat gewählt. Zehn Jahre nach ihrer Gründung hat die rechtspopulistische und in weiten Teilen rechtsextreme Partei damit ein kommunales Spitzenamt geholt. Der AfD-Kandidat Robert Sesselmann gewann die Landratswahl mit 52,8 Prozent gegen seinen CDU-Konkurrenten Jürgen Köpper. Thüringens Verfassungsschutz stuft den dortigen AfD-Landesverband übrigens als „gesichert rechtsextremistisch“ ein.
Kurz vor der Wahl war ein Team von „Spiegel TV“ in Sonneberg unterwegs und hat dort Bürger getroffen, die offen mit der NSDAP sympathisieren und sich von den demokratischen Grundwerten unserer Verfassung verabschiedetet haben. Ein Blick auf die politischen Umfragen offenbart, dass Sonneberg kein Einzelfall ist. In den neuen Bundesländern rangiert die AfD – mit Ausnahme von Berlin – zwischen 20 und 30 Prozent. Teilweise ist sie sogar stärkste Kraft.
Noch immer hält sich hartnäckig die monokausale Erklärung, dass man die Wähler der AfD zurückgewinnen kann, da sie diese nur aus Protest wählen würden oder nicht wissen, welches Gedankengut die Partei beherbergt. Die Realität zeichnet jedoch ein anderes und deutlich komplexeres Bild, das noch viel erschreckender ist. Der Twitteruser Markus Pohle ist in Chemnitz geboren und aufgewachsen. Der nun folgende Thread zeigt exemplarisch, wie schwer es sein wird, diese Wähler aus den neuen Bundesländern mit markigen Sprüchen und durch das Übernehmen rechter Talking Points a la Friedrich Merz (CDU) zurückzugewinnen oder durch simple Stigmatisierung einzuschüchtern. Aber lest am besten selbst.
Ich bin in Chemnitz geboren und aufgewachsen. Äußerungen wie in dem Video aus dem Cafe in #Sonneberg kenne ich seit meiner Kindheit- von Kollegen meiner Eltern bei der Betriebsfeier, von
der Raststätte am Wanderweg im Erzgebirge, von der Bushaltestelle, vom Wahlkampfstand. 1/x— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Das ist alles nicht neu. Hass auf „die da oben“, Hass auf alle die keine Weissbrote sind, dumpfbackige Selbstgerechtigkeit – all das gab und gibt es – von Lichtenhagen und Hoyerswerda bis Chemnitz 2018, bei jedem Fußallspiel, ohne dabei alle über einen Kamm zu scheren.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Neu ist: es wird von einer Rechtsaussenpartei kanalisiert, die im Osten im nächsten Jahr droht, stärkste Partei in Landtagswahlen zu werden. Es hilft herzlich wenig, Leute wie die Menschen im Video wie im Zoo abzufilmen und eine Twitter-Erregungswelle loszutreten.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Das gleiche Video hätte man vor 10 oder 20 Jahren in jeder x-beliebigen ostdeutschen Kleinstadt drehen können, wenn man sich zwei Stunden Zeit zum Suchen genommen hätte. Da hat es nur niemanden über „naja, die komischen Nazi-Ossis“ hinaus interessiert.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Diese Leute und ihre Einstellungen sind weder wegen der Flüchtlingswelle 2015, noch wegen Gendersternchen oder dem Heizungsgesetz vom Himmel gefallen. Es reicht als Erklärung weder die Wendeenttäuschung, noch das „mangelnde Demokratieverständnis“, die Überforderung mit
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
den „Fremden“ oder das diese Leute im Osten alle irgendwie komisch sind. Gegen die drohende Machstellung helfen akut weder sanierte Altbauten in Großstädten, kostenlose neue Heizungen für alle noch irgendwelche anderen finanziellen Salbungen.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Der Osten braucht einen demokratischen Aufbruch, der den Menschen wie der älteren Dame im Video unter die Arme greift – die Nein sagen, wenn der faschistische Irrsinn sich in der Öffentlichkeit bahn bricht. Dafür müssten sich von vernünftigen Konservativen bis Linken alle
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
unterhaken. Dafür wiederum müssten sich die Konservativen hier sehr sehr stark bewegen, auch wenn sie da sicher nicht die einzigen sind. Wer in die Kulturkampfparolen der AfD ala Merz und Spahn einstimmt, rollt den Faschisten den roten Teppich aus.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Für einen solchen Aufbruch braucht es Perspektiven für ein gelingendes und planbares Leben im Privaten, im Betrieb, und auf dem Konto, unmissverständliche Bekenntnisse aller demokratischen Kräfte zu Zivilgesellschaft, Rechtstaat, Demokratie, Weltoffenheit und Antifaschismus.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Kästner : „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Man muss den rollenden Schneeball zertreten.“
Das sollten sich alle politisch Verantwortlichen von Brüssel bis Sonneberg an den Spiegel heften.
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
p.s. not all heroes wear capes #Sonneberg pic.twitter.com/Bjkiq48xZn
— Markus Pohle (@markuspohle2) June 21, 2023
Das sagen andere User:
Die Lage ist ernst. Es braucht jetzt ein breites gesellschaftliches Bündnis über alle Parteien hinweg, um unsere Demokratie zu schützen. Wir müssen wegkommen von Randthemen und Nebelkerzen, die auf Spaltung setzen und von den wirklich wichtigen Themen ablenken. Deutschland braucht eine sozial gerechtere Politik, die Frustration und Politikverdrossenheit den Nährboden nimmt, auf dem Populismus und Rechtsextremismus wachsen können. Was die Leserinnen und Leser dieses Threads dazu zu sagen hatten, das erfahrt ihr jetzt:
Hallo Markus, ich bin seit 2001 aus Thüringen beruflich nach köln gezogen. Alles was du schreibst kann ich zu 100% so bestätigen. Das traurige an Sonneberg ist, da aus der Ecke komm ich her.. Stolz bin ich schon lange nicht mehr darauf..
— dan (@danny_vanV) June 22, 2023
Bin im Osten aufgewachsen. Man wird damit groß und übernimmt was Großeltern und Eltern von sich geben. Viele hatten niemals negativen Kontakt zu BPoC, manche sind noch nie einem begegnet. Wird geschimpft, weil war halt schon immer so.
— Raubtierchen 🌈 (@Raubtierchen321) June 22, 2023
Gut gesprochen, Kretschmer und 90 Prozent der CDU in Sachsen machen aber genau das Gegenteil. Und ich sehe auch nicht dass die irgendwie umdenken werden. Ganz im Gegenteil.
— toxic3 (@toxic333333) June 21, 2023
Hallo Marcus,
kann ich alles soo unterschreiben.
Schon vor 20 Jahren hab ich mich auf einem Dorffest verschluckt, als jemand sagte: Wir brauchen einen kleinen Hitler, der mal richtig aufräumt.
Hab gesagt: Den wird man aber nicht mehr los und dann?
Kein anderer hat was gesagt😬— Elly Dorftussi@❣️Mensch pos.Realist No AFD No Nazi (@EllyThanhof) June 22, 2023
Mitten in Thüringen aufgewachsen und kann all das auch nur bestätigen. Das geht alles schon lange und so viel weiter und ist wahrscheinlich arg komplex. Und dabei gleichzeitig so unglaublich frustrierend.
— tadayou (@backyardsong) June 22, 2023
Kann ich alles genau so bestätigen. Ich kenne solche Leute und diese Aussagen seit frühester Kindheit.
Der Unterschied zur alten BRD ist, dass es Menschen mit diesem Gedankengut dort ebenfalls gibt, aber man es niemals öffentlich in eine Kamera sagen würde.
— Philipp Köbe (@PhilippKoebe) June 22, 2023
Ich danke dir für deine Worte 👍
Genauso erlebe ich das auch hier in meinem Umfeld, es wird gehetzt gegen alles und nur die AFD ist der Heilsbringer, andere Meinungen werden kaum zugelassen, ich könnte an manchen Tagen nur noch 🤢— Wellnessqueen 📯🌺🐞🌻 (@lovlyfee) June 22, 2023
Mittlerweile ist es eine Generation, die weit entfernt vom Naziterror und Kriegsende aufgewachsen ist und auf ihre geschichtliche Unkenntnis „stolz“ ist
— Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen (@AMazzeppa) June 22, 2023
Diese Leute fühlen sich fremd im eigenen Land. Geistige Migranten.
Denen fehlen die Grundlagen der Verfassung. In der Schule haben sie’s nicht gelernt, Vereine gibt’s kaum und wenn wir da oft nur geschwurbelt. Parteien sind unpopulär. Es gibt kaum Zivilgesellschaft dort.— ketz fetzt (@ketzfetz) June 22, 2023
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Schaut doch hier noch rein: