Thread: Heutzutage darf man ja nichts mehr sagen
Politiker*innen nutzen das Schlagwort sehr häufig, freilich während sie vor einer Fernsehkamera stehen und ihre Meinung in die Welt hinausposaunen: Cancel Culture! Laut CDU-Chef Friedrich Merz sei diese die „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ und richte sich inzwischen gegen „völlig legitime Meinungen“. Gemeint ist der gezielte Ausschluss (von Vertreter*innen) bestimmter Positionen, etwa bei Veranstaltungen. Klingt nicht nett, liegt aber auch in der Natur der Sache: Wieso sollte man auch beispielsweise einen Holocaust-Leugnenden mit an den Tisch holen und dieser Position damit Legitimation verschaffen? Man muss aber gar nicht so weit gehen, auch im kleineren Maßstab fühlen sich Menschen aufgrund ihrer Meinung in scheinbar immer regelmäßigeren Abständen ausgeschlossen. „Das darf man ja nicht mehr sagen!“ liest und hört man immer öfter. Aber kann es in einer Gesellschaft, in der sich praktisch alle unbegrenzt viele Instagram-Accounts anlegen können, in der Corona-Leugnende durch die Straßen ziehen dürfen, jeder YouTube-Videos mit kruden Theorien hochladen oder jede einen öffentlichen Blog führen und sich weltweit mit Menschen gleicher Gesinnung vernetzen kann, überhaupt eine Cancel Culture geben? Twitteruser @DrLutzBoehm ordnet in seinem Thread für uns ein, wie viele dieser Diskussionen geführt werden.
A: „Das, was Sie sagen, verletzt meine Gefühle.“
B: „Heutzutage darf man ja gar nichts mehr sagen.“
A: „Sie dürfen alles sagen, ich teile Ihnen nur mit, dass es mich und vielleicht auch andere verletzt.“
B: „Ich werde gecancelt, aaaah!“
A: „Sie werden nicht gecancelt,…
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— Dr. Lutz Böhm (@DrLutzBoehm) August 2, 2022
…ich teile Ihnen nur mit, dass Sie es bewusst in Kauf nehmen, anderen mit Ihren Worten weh zu tun, wenn sie es weiterhin sagen.“
B: „Cancel Culture aus der linken Woke Bubble, aaaah! Die größte Bedrohung unserer Demokratie, aaaah!“
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— Dr. Lutz Böhm (@DrLutzBoehm) August 2, 2022
C-J: „Hier, B, nimm unsere Spende, um dich juristisch gegen A zu wehren!“
K: „Hier, B, ein Buchvertrag, um zu sagen, was man nicht mehr sagen darf.“
L: „Hier, B, möchtest du vielleicht eine Platte aufnehmen, um zu singen, was man nicht mehr sagen darf?“
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— Dr. Lutz Böhm (@DrLutzBoehm) August 2, 2022
M-O: „Aber B darf es doch offensichtlich sagen und bekommt auch den medialen Zugang dafür. Was ist mit A?“
Plasberg: „B, erzählen Sie uns Ihre furchtbare Geschichte der Unterdrückung, die Sie psychisch so sehr belastet!“
Q-Y:“Früher hat es doch auch niemanden gestört!“
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— Dr. Lutz Böhm (@DrLutzBoehm) August 2, 2022
A wird bedroht, Leute posten Bilder des Hauses, Steine werden geworfen. Ein einsamer, sehr wütender junger Mann Z nimmt die Jagdwaffe von Onkel Heinz, geht los, erschießt A.
Medien: „Der arme Z, der von der Gesellschaft vergessen wurde, hat praktisch in Notwehr gehandelt!“
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— Dr. Lutz Böhm (@DrLutzBoehm) August 2, 2022
So reagieren andere User*innen:
Darf man das noch sagen? Nun, vom rechtlichen Standpunkt her darf man in Deutschland seeeehr viel sagen. Hier ist man dazu eingeladen, in Länder zu schauen, wo Menschen verhaftet werden, weil sie ein Plakat hochhalten, auf dem die Regierung kritisiert wird. Oder in denen Homosexuelle auf offener Straße verprügelt werden. In denen Medien gleichgeschaltet sind, Facebook deaktiviert ist oder Lynch-Justiz herrscht. Vergisst die Seite, die so laut eine Cancel Culture beschreit, nicht, dass Diskussionen in einer offenen Gesellschaft erfordern, auch die Meinung des anderen zu dulden und sich mit den Konsequenzen der eigenen Auffassung auseinanderzusetzen? Die Twitteruser*innen fanden die Interpretation jedenfalls sehr treffend und haben den Thread keineswegs gecancelt.
Das soeben Gelernte direkt mal anwenden
Sehr schöne Zusammenfassung.
— Erik Strub (@ErikStrub) August 2, 2022
„Schön“ würde ich jetzt nicht sagen.
Schön ist daran leider gar nichts.
Aber treffend, passend, das ja.— MsKtotheO (@MsKtotheO) August 3, 2022
Wer lauter schreit, hat nicht automatisch recht
Das ist leider tatsächlich der Ablauf dieser „Debatten“.
— Bob Kelzow (@BobKelzow) August 2, 2022
Siehe Fernsehdebatten, in denen Mindermeinungen die gleiche Sendezeit bekommen wie der wissenschaftliche Konsens
Ich finde diesen Thread perfekt zusammengefasst. Das einzige, was ein bisschen unschön ist, ist der Eindruck, dass tatsächlich der größte Teil der Gesellschaft diese negative Meinung vertritt. Oft sind viel mehr Menschen auf der Seite von A, die Medien zeigen das nur nicht.
— minamia (@minamiaforgood) August 4, 2022
Irgendwas mit einer boshaften Mutter vermutlich
Hat B noch ne tragic backstory? Jeder gute villain braucht ne tragic backstory
— Smeared_Eyeliner.png (@Ferd_Blu_) August 4, 2022
Wenn euch jetzt irgendwie nach Kopfschütteln ist, dann schaut doch mal in unsere neue Reihe: