Thread: Ein Vorschlag zur Dienstpflicht
Vor ein paar Tagen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Debatte entfacht und einen Pflichtdienst für junge Menschen in sozialen Einrichtungen oder bei der Bundeswehr vorgeschlagen. Sie sollen sich „in den Dienst der Gesellschaft stellen“ und „aus der eigenen Blase rauskommen“. Das Thema wird seitdem heftig diskutiert und stößt gerade bei den Betroffenen auf Ablehnung, da hier der Eindruck entsteht, der Staat versuche mit billigen Arbeitskräften essenzielle Löcher zu stopfen, für die er aufgrund von jahrelangen Versäumnissen selbst verantwortlich ist.
Gerade im Pflegebereich hat dieser Vorschlag einen sehr faden Beigeschmack. Aber wir wollen hier nicht nur mäkeln, denn es gibt durchaus auch Positives an einem solchen Dienst. So ist er zum einen eine Orientierungshilfe, bietet er doch einen Einblick in ein geregeltes Berufsleben als Teil eines Teams und zum anderen in Arbeitsfelder, denen man vermutlich sonst nie so nahegekommen wäre. Man kann also Sozialkompetenz sowie Lebenserfahrung gewinnen und folglich daran wachsen. Dem gegenüber steht ein gewaltiges Aber. Allem voran die schlechte Bezahlung und die Bevormundung durch den Staat, um nicht gar zu sagen: Zwang. Die Art und Weise, wie diese Dienstpflicht gefordert wird, hört sich so an, als wäre die Jugend durchweg arbeitsscheu, faul und würde sich nicht sozial oder politisch engagieren. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall, nie waren junge Menschen (freiwillig) aktiver in sozialen Projekten oder politischen Bewegungen. Die Erwachsenen von morgen stehen zudem vor schier unlösbaren Aufgaben, die aus den politischen Versäumnissen der Boomer-Generation und ihrem Unwillen zur Veränderung entstanden sind. Mit der Klimakatastrophe am Horizont, dem Krieg in Osteuropa und der drückenden Inflation im Rücken klingt die geforderte Dienstpflicht ganz schön unverschämt. Aber man soll ja nicht nur dagegen sein, sondern auch alternative Vorschläge machen. Das dachte sich vermutlich auch die Twitteruserin @SchaferCorinna und hat deswegen den nun folgenden Thread geschrieben.
Hinweis: Der Text ist vom 5. März, als dieses Thema zum ersten Mal aufkam.
Die #Dienstpflicht für junge Menschen ist gerade wieder en vogue.
Ich schlage anhand der Argumente, die mir dafür bisher gebracht wurden, stattdessen eine Dienstpflicht 1 Jahr vor dem Renteneintritt* vor. Warum? Nehmt euch ne Tasse Tee, ich erkläre es euch. (Thread)— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Vorweg: Die Dienstpflicht, also nicht näher beschriebener Dienst an der Gemeinschaft leisten, soll als Ersatz für simple Wehrpflicht/Zivi herhalten. Ich habe Takes gelesen wie: Schüler*innen haben in den letzten Jahren für die Gemeinschaft mehr zurückgesteckt als alle anderen.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Es ist Ausbeutung billiger Arbeitskraft. Überhaupt, Zwang. Und warum immer die Jungen? Daher bin ich auf die Idee gekommen, mir die Frage zu stellen, wie es aussähe, wenn wir das ganze nach hinten schieben, vor die Rente. Und ich habe erstaunlich viele Pro-Argumente gesammelt.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Also, nehmen wir folgendes Szenario: 1 Jahr vor ihrem Renteneintritt (statt nach ihrem Schulabschluss) werden alle Bürger*innen zu Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet.
Zunächst die Allgemeinplätze, die oft verwendet werden:— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Dienst an der Gemeinschaft als Selbstzweck. Ja, gut, dass trifft auf egal welches Alter zu. Und die Charakterbildung, die ist auch wichtig! Ja, wirklich. Stellt euch den ehemaligen Dax-Vorstand vor, wie er in der Tafel hilft, oder in der Flüchtlingsberatung aktiv wird.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Während nach der Schulzeit die Leute noch mehr oder weniger dieselben Erfahrungen haben, holt ein späterer Dienst so manche Leute wieder auf den Teppich. Und da sind wir schon beim ersten Problem: Bezahlung. Wie soll man sein Haus/die Miete von dem Hungerlohn finanzieren?
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Wer sich dieser Frage stellt, erkennt, warum Jugendliche die erste Wahl sind für solche Forderungen. Die wohnen noch bei Eltern & haben keine Ausgaben, deswegen kann man sie mit nem kleinen Taschengeld abspeisen. (Es sei denn, die Eltern beziehen Hartz4, da wird eh einbehalten)
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Sie sind billig. Thats all. Die Kosten übernehmen da halt noch die Eltern. Deswegen Forderung Nummer 1 (anwendbar auf beide Szenarios!): Bezahlt die Leute anständig. Nicht unter Mindestlohn. Man kann nicht erwarten, ne Arbeitskraft für umme zwangsverpflichten zu dürfen.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Aber da kommen wir auch schon zu den Vorteilen: Wir bezahlen die Leute anständig, und bekommen dafür ja auch etwas. Wer kurz vor der Rente steht, hat ein Leben lang Soft- und Hardskills gesammelt, hat ein Netzwerk geknüpft mit Kontakten, sehr viele haben bereits Ehrenämter.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Wie geil wäre es, wenn sie nun die Chance hätten, zum Beispiel diese Ehrenämter quasi in Vollzeit zu machen? Nicht nur einmal in der Woche den Posaunenchor leiten, sondern jeden Tag, auch z.B. AGs an Schulen usw.?
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Nicht nur den Samstagvormittag in der Flüchtlingshilfe, sondern jeden Tag? Das wären doch ungeahnte Potentiale, die man da aktiviert. Und gleichzeitig würde so der Übergang in die Rente fließender. Kein abruptes Ende, sondern ein Übergang, der gleichzeitig motiviert,
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
als normales Ehrenamt weiterzumachen.
Aber, die sind doch schon alt, das kann man doch nicht verantworten! Warum? Die Alternative wäre, 1 Jahr normal weiterarbeiten. Das muten wir zu.
Und bevor jetzt alle rummaulen, die dann 2x n Pflichtjahr leisten müssten:— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Man könnte das easy regeln, indem man sagt, Zivi oder Wehrdienst können genauso wie ein FSJ oder FÖJ angerechnet werden, vielleicht ist man auch so flexibel und sagt: Wer Bock hat, kann auch zwischendurch so einen Dienst ableisten.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Und eine Sache noch am Ende wegen der Bezahlung: Gerade für in Hartz4 aufgewachsene wäre das echt ne Verbesserung, ne eigene Wohnung finanzieren zu können, damit sie nicht wegen der Bedarfsgemeinschaft am Ende eh nen Großteil abgeben müssen.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Anständige Bezahlung könnte halt sofort dem Argument der Arbeitskraftausbeutung einen Riegel vorschieben. Ehrenamt ist das eine, aber unter Zwang sollte man wenigstens ne eigene Wohnung und Essen davon bezahlen können.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Zwang kann außerdem auch loser gehandhabt werden. Direkt nach dem Schulabschluss oder frei wählbar innerhalb eines Zeitraums, am Stück oder immer mal ein Monat zwischendurch.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Und ja, mir ist bewusst, dass 65-Jährige vielleicht nicht mehr die erste Wahl für die Bundeswehr sind, aber um den Wehrdienst geht es bei der Dienstpflicht auch gar nicht primär. Wer will, kann ja trotzdem hin und es sich später anrechnen lassen.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Ich selbst würde tatsächlich je ein halbes Jahr in den 40ern und vor der Rente machen, das eine in was technisch/ökologischem und das andere mit irgendwas musikalischem/kulturellem. Das fände ich auch nur halb so schlimm, als wenn mir sowas mit 18 aufgedrückt worden wäre.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 5, 2022
Das sagen andere User:
Und, was haltet ihr von diesem Vorschlag? Hinterlasst uns doch einen konstruktiven Kommentar! Was die Leserinnen und Leser dieses Threads dazu zu sagen hatten, das erfahrt ihr von uns. Wir haben ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen hier für euch zusammengetragen:
zu nehmen. Um anschließend mit neuen Erfahrungen weiterzumachen.
— cchaos74 (@cchaos74) June 13, 2022
Wer sich ausprobieren möchte oder aus sonstigen Gründen gerne in solche Berufsfelder reinschnuppern möchte, der kann das ganz ohne Dienstpflicht auch jetzt schon problemlos machen: Freiwilliges Sozialws Jahr, Freiwilliges Ökologisches Jahr usw. stehen allen jungen Menschen offen.
— Karsten Zapp (@KarstenZapp) March 5, 2022
Das würde ich soo gerne machen.
Gerade wenn die Karriere noch nicht festgefahren ist.
Blöd nur, dass es gesellschaftlich nicht anerkannt ist.
So wäre für mich persönlich eher die Frage wie es im Job nach einer 2 jährigen fachfremden Pause mit 40 weiter ginge… 🙄— Daniel Fuchs (@Daniel_Zwei) March 7, 2022
Ich find die Idee interessant. Ich hab neulich gedacht wie erleichtert ich damals war als ich ausgemustert wurde.
Nicht weil ich nichts für die Gemeinschaft leisten wollte, sondern weil ich schlicht Angst hatte. Ich war sozial nicht so weit.— Jochen (@Jochinator) March 6, 2022
Einfach um eine möglichst freie und gute Berufswahl zu ermöglichen und so auch gesellschaftliches Engagement ermöglichen ohne, dass sie auf Geld o.ä. verzichten müssen.
— Jörnicorn (@Joernroeschen) March 13, 2022
Interessanterweise sind das genau die, die Wehrpflicht und Zivi absolviert haben. Fast so, als würden diese Ideen nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, wie es aber behauptet wird 🤔
— Jörnicorn (@Joernroeschen) March 13, 2022
Ich finde es auch schön, dass eine solche Herangehensweise auch den Diskurs konstruktiv dreht, von „die [Jungen] sollen ruhig mal“ zu „wie wollen wir als Gesellschaft leben“ bzw „was bringe ich ein“.
— Silke for 🌏future. Wie wollen wir leben? (@meisterohne_t) March 6, 2022
Seh ich auch so. Ich will mit dem Thread auch eigentlich n bisschen kontern, dass viele so ne dienstpflicht fordern und in dieser form von Ausbeutung billiger Arbeitskraft irgendwie kein Problem sehen.
— Corinna (versiffte Göre) (@SchaferCorinna) March 6, 2022
Die beste Demokratisierungsmaßnahme (oder eben Engagement im Ehrenamt) wäre die Einführung des Grundeinkommens oder zumindest der 4 Tage Woche (bei vollem Lohnausgleich, siehe Irland). Nach 40h + 15h (Arbeitsweg) geht ein(e) Strassenarbeiter*in selten demonstrieren.
— Valerian H (@kharthax) March 6, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Schaut doch hier noch rein, wenn ihr mögt: