Thread: Ein alter Schulkamerad
Dass die Bildungschancen in Deutschland nicht gleichverteilt sind, wissen wir im Prinzip nicht erst seit der PISA-Studie. Im Grunde war vielen von uns schon zu Schulzeiten bewusst, dass manche einfach gleicher sind als andere. Nicht alle Eltern können ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen oder Nachhilfeunterricht finanzieren. Manche Familien haben ja nicht einmal Ressourcen, die Kinder mit einem ausreichenden Frühstück im Bauch und einem Snack in der Tasche zur Schule zu schicken. Man kann diesen Gedanken selbstverständlich noch weiterspinnen: Welche Familien haben viele Bücher zu Hause und ausreichend Tablets und Computer für die Kinder? Welche Familien ermöglichen Teilhabe an Kultur und Sport? Welche Familien verfügen über ein starkes soziales Netzwerk und wissen, wie die akademische Welt funktioniert? Welche Familien vermitteln ihren Kindern tagtäglich den sozialen Code, ohne den es in der Welt der Privilegierten schwierig wird? Ganz ohne Zweifel sind Kinder aus akademischen Haushalten ihren Schulkamerad*innen und Kommiliton*innen gegenüber im Vorteil! Natürlich hört man immer wieder: Man kann jemandem die Tür öffnen, aber durchgehen muss die Person schon selbst. Aber machen wir uns nichts vor. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man vorbereitet und mit dem Auto bis vor die Tür gefahren wird, dabei Mut zugesprochen bekommt und mit dem Regenschirm begleitet wird – oder nach der Vormittagsschicht bei Starkregen mit den Öffis hinfährt. Die Medizinstudentin @PsychophieToBe hat zu diesem Thema ihre eigenen Erfahrungen niedergeschrieben.
Ein alter Schulkamerad und ich studieren beide Medizin, ich hatte dank besserem Abi ein Jahr früher als er einen Platz. Er: aus sehr gutem Hause, Eltern Arzt und Unternehmerin, früh gemeinsam mit Familie in der Politik (*liberal*) engagiert, an Ehrenamt herangeführt, (1/4)
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
im professionelleren Eliten-Sport gefördert, von der Familie finanzierte Auslandspraktika, noch nie zur Lohnarbeit verpflichtet gewesen. Ich: Arbeiterkind aus ziemlich zerschmetterten Verhältnissen, mit Eltern ohne Freunde, Hobbys, geschweige denn Ehrenamt oder Sport, (2/4)
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
das sie mir hätten vermitteln können. Rausgekämpft, aber ohne Ressourcen, die über das, was mir ebendieser Kampf beschert hat, hinausgehen. Versteht mich nicht falsch, ich mochte ihn als Menschen und will seine Leistung nicht kleinreden… aber nun ratet mal, (3/4)
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
wer mehrere Stipendien hat, wer die Verbindungen für tolle Jobangebote schon weit vor Studienabschluss hat, für die krasse Promotionsstelle… Chancengerechtigkeit my ass. (4/4)
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
So reagieren andere User*innen:
Zuerst einmal ziehen wir den digitalen Hut vor der Userin! Alle, die ohne oder mit wenig Unterstützung den sozialen Aufstieg geschafft haben, wissen, welch enorme Kraftanstrengung dies kostet und welche Leistung damit verbunden ist. Aus diesem Grund bekam die Studentin auch sehr viel Zuspruch und Anerkennung aus der Community. Die Diskussionen unter dem Thread zeigen aber auch, dass längst nicht alle verstanden haben, dass wir in Deutschland weit von Chancengleichheit entfernt sind. Wir haben wie üblich die besten Reaktionen für euch zusammengetragen.
Zu Fuß, auf dem Rad oder doch mit dem Taxi? Es ist ein Unterschied!
Auch bei mir im Medizinstudium gab es diese priviligierten Menschen(auf die ich zugegebermassen ein bisschen neidisch war😊).
Heute bin ich froh, dass ich den Fussweg gegangen bin, denn das gibt mir eine Nähe zu meinen Pat., die meine Arbeit wertvoll macht.
— Gyns N’Talk (@GynsNTalk) April 30, 2022
Das stimmt. Menschlich lernt man sehr viel dadurch. Natürlich ist das auch anders möglich – aber andere Lebenswelten und Hürden nicht nur von außen beobachtet zu haben, kann den Perspektivwechsel dochund noch mal ganz anders befördern.
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
Wir stimmen zu, sollten Chancenungleichheit aber auch nicht romantisieren
Du bist mir in die Timeline gespült worden.
Ganz ehrlich: Viel lieber würde ich von dir behandelt werden als von dem Schnösel … aber ich weiß, das ist kein Trost auf dem steinigen Weg.— Lorena NaNa (@Fraktalgesicht) April 30, 2022
Ganz lieben Dank. Sowas bedeutet mir viel, wirklich, gerade weil man sich leider oft doch etwas deplatziert und impostorhaft fühlt. Aber die Leute sind ja auch nicht alle Schnösel – nur viel zu viele erkennen oft ihre privilegierte Lage kaum an.
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
Einfach mal im Vorlesungssaal umschauen, wer gähnt
Verstehe und kenne ich so gut. Hätte im 7. Sem beinahe das Studium aufgegeben, als ich kein Stipendium bekommen habe. Man schneidet ja wegen der vielen Nebenjobs auch notenmäßig immer schlechter ab als die anderen.
— Diana Vogel (@voeglein_) April 30, 2022
Ja, durch die Lohnarbeit neben dem Studium bleibt unfreiwillige g zu wenig Zeit zum lernen – egal wie sehr man es versucht. Zudem ist der permanente existentielle Druck der prekären Situation sehr kraftraubend und zermürbend, was dem Studium auch nicht zu gute kommt
— Katrin Becker (@katrinbecker89) April 30, 2022
Vitamine sind immer wichtig
Alle, die „vergleiche nicht“ schreiben, sehen das Problem nicht.
Ich bin zwischen den Welten aufgewachsen, kenne beide Seiten. Habe einiges aus der „Oberschicht“ mitbekommen und weiß, dass Vitamin B Türen öffnet, egal, wie ungeeignet jemand ist.
Und ohne VitB geht vieles nicht.— Chaosqueen 🧗🏻♀️ (@TheChaosqueen) May 1, 2022
Da mal drüber nachdenken
Würdest du gerne tauschen wollen? Natürlich mit ein paar Veränderungen, versteht sich.
— Le puissant pirate (@threepwood1990) April 30, 2022
Ganz klar, ja. Ich halte absolut nichts davon, mir den Mangel an Ressourcen schönzureden. Natürlich, es hat auch zu persönlicher Entwicklung geführt, Perspektivwechsel, Unabhängigkeit.. aber die kann man auch anders erreichen, und das hätte mir viele nachhaltige Probleme erspart.
— Psychophie. (@PsychophieToBe) April 30, 2022
Respekt!
Danke fürs Thematisieren. Ich kann mich gut in deine Situation versetzen:
– aufgewachsen im Wohnwagen, alles selbst gelernt, Medizinstudium nach Gelegenheitsjobs als UPS-Fahrer, am Fliessband…. Während des Studiums jeden Morgen um 6 Arbeitsbeginn als Reinigungskraft… (1/2)— NeoDoc (@iSammy78) May 1, 2022
… dann um 8 an der Uni. Studium unter fast nur Geburtseliten in Heidelberg. 3 Tage nach Examen begonnen zu arbeiten. 10 Jahre Studienkredite abgezahlt (Kinder während des Studiums müssen auch bezahlt werden). Nach wie vor zur Miete… Kinder jetzt 13/17/19 j alt). Leben startet.
— NeoDoc (@iSammy78) May 1, 2022
Warum wir solche Themen immer wieder aufgreifen? Ganz einfach: Weil sie wichtig und längst nicht überall angekommen sind. Es kann nur helfen, mal die eigenen Schuhe abzustreifen und sich in die einer anderen Person zu stellen. Deswegen möchten wir euch auch diesen Thread ans Herz legen: