Thread: Der ganz normale Jobcenter-Wahnsinn
Wer einmal Kontakt mit der ARGE oder dem Jobcenter hatte, vergisst das so schnell nicht. In der Theorie sind die Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme ja eigentlich eine gute Sache. In der Praxis bleibt von dieser guten Grundidee oft nicht viel übrig. Erstens ist der Weg bis zur Leistung selbst ein bürokratischer Spießrutenlauf und zweitens hat man eine im Sozialgesetzbuch verankerte Mitwirkungspflicht, die von den Ämtern gerne dazu genutzt wird, die Leistungsempfänger und Jobsuchenden möglichst schnell aus der Statistik zu tilgen. Von den niedrigen Hartz-IV-Sätzen wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst anfangen. Kaum ist man gemeldet, schon flattern Einladungen zu absurden Weiterbildungsmaßnahmen und wenig hilfreiche Stellenangebote ins Haus. Selten entsprechen diese der Qualifikation oder Eignung des Leistungsempfängers. Teilnehmen muss man trotzdem, da einem sonst Sanktionen und Sperren drohen. Dabei drängt sich der Eindruck auf, der Staat sieht diese Menschen grundsätzlich als arbeitsunwillige Schmarotzer, die schnell in die Spur geschickt werden müssen. Ein weiteres Beispiel dafür, dass dieses System absolut menschenunwürdig ist und endlich reformiert werden sollte, liefert nun der Twitteruser @KevinKunze_ mit dem folgenden Thread.
Nach dem Master habe ich mich arbeitslos gemeldet, um während der Bewerbungsphase Miete & Essen zahlen zu können. Ich bin seit 10 Tagen exmatrikuliert. Das Jobcenter will mich direkt in eine Maßnahme schicken, wo man 3 Stunden pro Tag unter Aufsicht Bewerbungen schreibt (1/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Im Erstgespräch sagte die Jobvermittlerin dazu: „Ich habe hier eine ganz tolle Förderung für Sie. Die ist verpflichtend.“ Bisherige Erfahrungen wurden nicht abgefragt, nur, was ich ungefähr machen will und ob ich einen Führerschein hab (nein). (2/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Die ersten Job-Vermittlungsangebote, auf die ich mich bewerben MUSS, kamen. Und nichts passt. Eine Ausschreibung setzt einen Führerschein voraus, eine andere künstlerische Erfahrungen, bei einer weiteren ist die Frist Anfang Februar abgelaufen. (3/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Man landet direkt beim Jobcenter, wenn man kein Jahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Und wer vor allem neben dem Studium gearbeitet hat, ist meistens als Werkstudent*in eingetragen, fällt damit raus. So landet man nach dem Abschluss direkt im Hartz 4-System. (4/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Gleichzeitig kann das System mit Akademiker*innen wenig anfangen. Phasen von Arbeitslosigkeit haben in dem Sektor ja sowieso leider System, das zeigt sich u.a. in dem, was unter #IchBinHanna berichtet wird. Aber auch, wenn man aus der Uni raus will, ist es nicht besser (5/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Ohne, dass ich im Gespräch irgendwas gesagt hätte, wurden natürlich sofort Sanktionen angedroht, „die gibt es ja noch“. (6/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Alles was mit Hartz 4 zu tun hat ist übrigens für alle beschissen. Auch ohne Sanktionen ist es entwürdigend, alles offenlegen zu müssen, Druck zu bekommen und unmenschlich wenig Geld zu kriegen. Es wird systematisch so getan, als wären Leute aus böser Absicht arbeitslos. (7/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Ich kann mir kaum vorstellen wie es Leuten mit den ganzen widersprüchlichen Infos, dem halb-verdeckten Misstrauen, den impliziten Drohungen etc. geht, für die Rassismus noch dazukommt, die andere Bildungsbiografien haben, oder die auch nur etwas schlechter deutsch können. (8/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 12, 2022
Eine kleine Sache, die mir aber enorm negativ auffällt: Man wird vom Jobcenter als Kundin/Kunde bezeichnet. Man ist aber Bewohner*in oder Bürger*in des Staates, mit Rechten und gesetzlichen Ansprüchen, die zu erfüllen sind. Nicht Kund*in für eine freundliche Dienstleistung. (9/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 13, 2022
In den nächsten Tagen gehen diese Abenteuer sicher weiter, weil ich auf jeden Fall die Maßnahme und einige der Jobvorschläge ablehnen werde. Nur ein kurzer Fun-Fact: Ich hab noch keinen Cent bekommen, es wurde noch nichtmal festgestellt, ob ich überhaupt was bekommen kann. (10/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 13, 2022
Natürlich habe ich mich im Studium beworben, aber danke, random-Person die sich „Sozialdemokratin“ nennt. Das System ist für alle scheiße, Akademiker*innen haben es noch am besten. Cool auch, meinen Namen ganz oft zu schreiben weil er so lustig ist.(11/x)https://t.co/SZJLADavJj
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 14, 2022
Ich habe einen Bachelor in Wirtschaftspsychologie mit Schwerpunkten in Personal und Marketing gemacht, hatte Stellen, in denen ich selbst Angestellte hatte und Leute eingestellt habe, war ein Jahr Hilfskraft in der Personalabteilung der Uni und habe Bewerbungen gesichtet. (12/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 14, 2022
Das Bewerbungscoaching ergibt für mich keinen Sinn und dient offensichtlich nur dazu, mich aus der Statistik zu kriegen, wie die meisten Maßnahmen. Als ich fragte, ob ich mir auch selbst Weiterbildung suchen kann, die finanziert wird, war die Reaktion eher verhalten. (13/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 14, 2022
Der Flyer zur Maßnahme ist übrigens so allgemein-unkonkret formuliert wie ein Horoskop. Es ist als one-size-fits-all gemeint, ist aber one-size-fits-none. Die kostenlosen Umschläge und Fotos brauche ich nicht – die meisten Stellen wollen explizit nur PDF ohne Foto. (14/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 14, 2022
Es wäre für die Nerven einiger hier sicherlich gut, nicht einfach so Schlüsse über meine persönliche Situation oder meine Jobsuche zu ziehen und sich dann über das aufzuregen, was man sich ausgedacht hat. Das ist nichts anderes als schlechte Fanfiction. (15/x)
— Kevin Kunze (@KevinKunze_) March 15, 2022
Das sagen andere User:
Wie schon eingangs beschrieben ist dies kein Einzelfall, sondern gängige Praxis. Das zeigt auch ein Blick in die Kommentare dieses Threads. Die treffendsten Reaktionen und Erfahrungsberichte haben wir hier für euch gesammelt.
Ich hatte meinen Job gekündigt für ne längere Reise und habe in dem Profil angegeben, was ich für danach such (Assistenzärztin Labor/Anästhesie). Vorgeschlagen bekam ich nur Angebote für Fachärztin HNO und Neuro.
Hab denen gesagt, dass sie ihre 1/x— MaxTrèsfeux (@tresfeux) March 14, 2022
Zeit verschwenden und mich in Ruhe lassen sollen, da ich für keinen einzigen vorgeschlagenen Job die Qualifikation hatte und lieber selber suche.
Antwort: Mein Profil werde nur grob beachtet und sie müssten pro Woche 2 Jobs vorschlagen.Das is Steuergeldverschwendung.
2/2
— MaxTrèsfeux (@tresfeux) March 14, 2022
Jobcenter sind gigantische Steuergeldverschwendungen. Habe dieselbe Erfahrung gemacht als ich aus dem Ausland zurückkam. Man konnte mich zunächst gar nicht eintragen im System: „Dafür haben wir kein Kästchen“. Stand sogar kurz vor der Wohnungslosigkeit, Umzug wurde nicht erlaubt.
— ✊🇺🇦 Die Bürokrateuse (@Integrateuse) March 14, 2022
Sitze aus Angst davor und weil ich Null Geld kriegen würde wegen gemeinsamer Wohnung mit gut verdiendendem Freund in nem Job, für den ich überqualifiziert bin, womit mir aber die Zeit zum Bewerbungen schreiben fehlt. Danke für nix.
— Lina Tereshkova 🏠 #zeroCovid (@lina_tereshkova) March 14, 2022
Es bräuchte eigentlich eine Förderung für eine Findungsphase nach dem Studium/Ausbildung mit nochmal eigenen Regeln.
— Lina Tereshkova 🏠 #zeroCovid (@lina_tereshkova) March 14, 2022
Ich war mal in so einer Maßnahme, wo wir 8h täglich Bewerbungstraining hatten. Da waren alle Berufe wild zusammengestellt. Der Hälfte musste man den Umgang mit einem PC beibringen. Als Industriekauffrau habe ich 6 Wochen lang weitgehend nur Onlinespiele gespielt 🤷
— ǝʇʇǝlǝssɐnb (@Quasselette) March 14, 2022
Ich hab so Kurse geleitet, sinnlos. 15-25 Leute, täglich Neuzugänge, unterschiedliche Kurs-Dauer, verschiedene Voraussetzungen und Aufträge. Eigentlich kann man nur Einzelne 1:1 betreuen und den Rest machen lassen…
Unter den Bedingungen ist es pure Beschäftigung/Schikane.— FrauT (@traumafrau) March 14, 2022
Dieses entwürdigende Zwangssystem aus Schröders Zeiten (Agenda2010) nenne ich daher gerne Hass4
— Mensch (@entropie42) March 14, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Um den ganz normalen Jobcenter-Wahnsinn geht es auch in diesem Beitrag: