Triggerwarnung: Dieser Beitrag thematisiert Verbrechen mit K.O.-Tropfen und sexuelle Übergriffe!
Die Vorwürfe gegenüber Rammstein und ihrem Frontsänger Till Lindemann wiegen schwer. Zahlreiche Frauen beschreiben, wie auf Konzerten der Band gezielt und offenbar ganz systematisch junge Frauen für Sex rekrutiert wurden. Auch mutmaßliche sexuelle Handlungen gegen den Willen der Frauen – Stichwort K.O.-Tropfen – stehen weiterhin im Raum. Doch ganz unabhängig vom Fall Rammstein/Lindemann ist die Angst vor K.O.-Tropfen für Frauen trauriger- und beschämenderweise ein ständiger Begleiter. Egal ob auf Partys, im Club oder wie im folgenden Beispiel auf Festivals. Offizielle Zahlen zu Übergriffen und Verbrechen mit K.O.-Tropfen gibt es nicht, doch Experten vermuten eine extrem hohe Dunkelziffer.
Dies liegt zum einen daran, dass sich die entsprechenden Substanzen nur wenige Stunden im Körper des Opfers nachweisen lassen. Häufig kommt jedoch auch die erschreckende Tatsache hinzu, dass betroffenen Frauen schlicht nicht geglaubt und das Geschehene gar heruntergespielt und verharmlost wird. Dieser falsche Umgang führt schlussendlich nur zu großer Verunsicherung und dazu, dass sich Opfer erst gar nicht trauen, ihren Verdacht oder ihre Vermutung zu äußern. Twitteruserin @Shurjoka war mit 18 Jahren auf einem Festival und berichtet in folgendem Thread über das, was ihr dort passiert ist. Und darüber, wie sie damals reagiert hat – und vor allem, warum!
CN: KO Tropfen
Ich war mit 18, fast 19 das erste Mal auf einem Festival, dem Frequency. Ich war mit meinem damaligen Freundeskreis und Freund dort. Wir sind ein paar Tage früher angereist um davor schon zu campen. Bei meinem ersten Konzert Abend, wurde es mir in der Crowd zu
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
voll und mein Kreislauf hat gestruggelt. Ich hab mein Freund Bescheid gesagt, dass ich eben kurz an den Rand gehe um Luft zu holen.
Ich hab mich neben das Geschehen auf den Boden gesetzt, weil mir schwindelig war als mich ein junger Mann angesprochen hat. Er hat mich aus meinem
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Stream auf Twitch erkannt. Der Stream war damals noch sehr, sehr klein und es hat mich sehr verwundet, aber er war auch sehr freundlich also war ich nicht allarmiert. Er hat mir angeboten, mir ein Glas Wasser zu bringen, nach dem er gefragt hat, ob bei mir alles okey ist.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Das ist und war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich ein Getränk von einem Fremden angenommen habe.
Ich saß da am Boden, 20 Meter Luftlinie von meinen Freunden entfernt und mein Kreislauf war am Arsch. Es hätte sich paranoid angefühlt, es abzulehnen.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Nach dem ich das Wasser getrunken habe, ging alles sehr, sehr schnell. Mein Kopf wurde extrem nebelig, es fühlte sich an als würde jemand eine schwere Decke auf meine Gedanken legen und es fiel mir unendlich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich bekam Panik.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Panisch sprang ich auf, kämpfte mich durch das Publikum zurück zu meinem damaligen Freund. Ich hatte Glück, es war eines der früheren Konzerte des Abends, daher waren da wenig Menschen in der Crowd.
Als ich ihn fand, habe ich versucht ihm zu erklären, was passiert ist. Er meinte
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
er bringt mich zurück zu unserem Zeltplatz. Ab da, habe ich keine Erinnerungen mehr.
Ich habe keine Ahnung, wie ich zurück zum Zelt gekommen bin. Ich habe keine Ahnung, wie lang das gebraucht hat.
Aus Erzählungen von Freunden weiß ich, dass ich mehr als 10 Stunden weggetreten— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
war. Sie dachten, ich hätte mich mit Alkohol komplett abgeschossen und war deswegen so am Arsch.
Es fiel mir sehr schwer zu formulieren, dass ich glaubte, dass es KO Tropfen waren. Ich hatte am Vortag nicht viel getrunken, aber die Tatsache, dass ich nicht nüchtern war, sorgte
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
dafür, dass ich nur semi ernst genommen wurde. Es wurde auf meinen Kreislauf geschoben, darauf dass das mein erstes Festival war und mein Körper vermutlich mit der Sonne tagsüber und dem Alkohol nicht klar kommt.
Als ob ich davor noch nie den ganzen Tag in der Sonne war.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Aber die Verunsicherung hat funktioniert. Ich war nicht bei der Polizei. Ich habe keine Anzeige erstattet.
Erst Jahre später als ich mich getraut habe in einer Frauenrunde darüber zu sprechen, wurde ich gehört. Ich traf noch jemanden, der Erfahrungen mit KO Tropfen hatte, und
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
hab verstanden, dass das nicht meine Schuld war. Dass das nicht einfach was Wetter, schlechtes Bier oder anderes war.
Ich mache meinem damaligen Umfeld keinen Vorwurf. Wir waren unfassbar jung. Keiner von uns wusste es besser. Niemand konnte sich vorstellen, dass da ein Typ über
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
ein Festival Gelände rennt, mich erkennt und dann entscheidet, mir was in ein Getränk zu schütten.
Junge Menschen sollten nicht konstant auf der Hut sein müssen; und doch habe ich als Frau das Gefühl, dass ich jedes Mal Teil einer Jagd werde, der ich nicht zugestimmt habe.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Ich teile das vor allem deshalb, weil ich aufzeigen möchte, wie schnell so etwas gehen kann.
Ich wusste damals, was KO Tropfen sind. Ich wusste, dass man keine Getränke von Fremden annimmt.Ich hab Menschen nur nicht zugetraut, so eiskalt und berechnend zu sein.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
In den Kommentaren zum Thread wurde auch hier das allgegenwärtige Problem der Täter-Opfer-Umkehr thematisiert: Es sind immer die Täter, die Schuld tragen – niemals die Opfer! Reaktionen wie „Na, dann soll sie ihr Getränk eben nicht offen herumstehen lassen!“ oder „Von Fremden nimmt man kein Getränk an, das weiß man doch!“ sind daher komplett unangebracht und lenken den Fokus weg vom alleinigen Täter. Neben eigenen Erfahrungsberichten hinterließen die Leserinnen und Leser jedoch auch sehr viel Zuspruch für und Respekt vor dem offenen und persönlichen Bericht der Betroffenen.
Wahnsinnig schlimm zu lesen, was dir passiert ist. Danke, dass du das hier öffentlich teilst, es ist wichtig da awareness zu schaffen.
— Vivi ✨ (@Vivi22061) June 8, 2023
Darf ich sagen, dass ich finde, dass du stolz auf dich sein kannst, wie du in dem moment reagiert hast?
— mimbutzki (@mimbutzki) June 8, 2023
Hey Pia danke, dass du die Erfahrungen, die du gemacht hast, teilst, das ist so wichtig.
— KleeWieCleo (@Klee4Leo) June 8, 2023
Vielen vielen Dank für die wirklich durchweg liebevollen Kommentare und euren Mut eure Geschichten zu teilen. 💜
Zu einigen Kommentaren: Es ist sehr lieb, wenn ihr schreibt dass ich toll reagiert habe, ich möchte dazu aber gerne ein paar Worte sagen.
Ich finde nicht, dass ein
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Opfer gut oder schlecht reagieren kann, oder viel mehr: wir sollten versuchen das Verhalten von Opfern so gut es geht nicht zu bewerten.
Opfer sind in erster Linie Opfer, sie können nichts dafür und wenn wir ihr Verhalten kategorisieren, entsteht auch schnell ein Gefühl einer
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Mitverantwortung oder sogar Schuld, wenn auch nicht beabsichtigt.
Für mich waren KO Tropfen immer irgendwie da, aber als Gefahr gleichzeitig so weit weg, weil „wenn ich mich richtig benehme, dann passiert mir da nichts, ich muss nur aufpassen“ und während diese Tipps und
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Gedanken irgendwo nachvollziehbar sind und Eltern ihren Kindern um sie zu schützen auch nicht viel mehr als das mitgeben können, entstand bei mir dadurch auch ein „ich bin doch nicht so doof dass mir das passiert“.
Und das ist scheisse. Weil es führt zu Stigmatisierung, es führt
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
zu Scham und es führt dazu, dass Opfer darüber nachdenken, ob sie sich falsch verhalten haben.
Und das suckt.
Täter sind schuld daran. Täter tragen die Verantwortung dafür. Täter verhalten sich falsch, niemals aber ein Opfer.
— Joka (@Shurjoka) June 8, 2023
Mehr zu diesem wichtigen Thema könnt ihr im folgenden Thread lesen.