Taschentücher auspacken! Die Dame sagte: „Es ist so schön, dass die jungen Leute heutzutage freier leben können“

Laut einer Vergleichsstudie aus dem Jahr 2013 ordnen sich in Deutschland 7,3% der Menschen der LGBT-Community zu, sie identifizieren sich also als schwul, lesbisch, bi oder transgender. Das sind knapp sechs Millionen Menschen. Wohlgemerkt erfasst die Statistik nur diejenigen Menschen, die sich den vier Kategorien zuordnen möchten. Andere, die sich von der Einteilung nicht in ihrer Sexualität erfasst fühlen oder die sich aus verschiedenen Gründen nicht outen möchten, bleiben außen vor. Man kann es Letztgenannten nicht verdenken, denn auch in unserer weitestgehend aufgeklärten Gesellschaft gibt es Menschen, die jede Abweichung vom Mainstream verwerflich finden und soziopolitischen Fortschritt verhindern.

Auch wenn es noch viel zu tun gibt, muss man anerkennen, dass die Zeiten für Lebensentwürfe, die vom heterosexuellen Weltbild abweichen, schon deutlich schlechter waren. Zur Erinnerung: Bis März 1994 war gelebte Homosexualität in Teilen Deutschlands strafbar, erst dann wurde der Paragraph 175 im Zuge der Wiedervereinigung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Viele Generationen vor uns hatten Schwule und Lesben also wenig Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben. Um gesellschaftliche Verurteilung und juristische Verfolgung zu vermeiden, waren sie gezwungen, jahrzehntelang eine Lüge zu leben. Sicherlich ein grausames Schicksal.

Lovis Noah Cassaris, die in einer lesbischen Beziehung lebt, hatte eine zufällige Begegnung mit einer alten Dame, die genau davon betroffen war. Ihr Thread hat uns und viele Twitteruser:innen sehr bewegt.

Achtung, Taschentücher auspacken! 🏳️‍🌈😭❤️

Ich war nachmittags mit dem Hund spazieren und bin mit einer 80-Jährigen ins Gespräch gekommen, die ich im Sommer bereits einmal zufällig getroffen habe, als sie mit ihrem 18-jährigen Hund (mittlerweile taub und halb blind) unterwegs war.

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

Sie sagte mir, dass sie den Hund mittlerweile auf längeren Strecken in einem Hunde-Wagen durch die Gegend schiebt, um das Tier und ihren Rücken zu schonen. „Ich weiss!“, antwortete ich. „Sie haben letzte Woche zufällig mit meiner Partnerin gesprochen und dann hat sie mir das

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

erzählt!“ Na ja, nach etwas Small Talk verabschiedete ich mich. Ich war vielleicht in 20m Entfernung, da rief sie mich zurück. „Wissen Sie …“, fing sie an und ihre Stimme zitterte vor Aufregung. „Ich beneide Sie ein wenig!“ Ich fragte warum, und da erklärte die alte Frau mir:

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

„Ich finde es so schön, dass Sie von einer Partnerin reden … Ich hätte damals auch gerne eine gehabt. Aber stattdessen war ich 34 Jahre lang mit einem Mann verheiratet und die Ehe war eher eine Bürde. Als ich jung war, da war so was (=homosexuell/lesbisch) noch verboten.

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

Jetzt bin ich 80 und es ist zu spät, aber es ist so schön, dass die jungen Leute heutzutage freier leben können.“ Mir kamen nahezu die Tränen. Sie war sichtlich nervös. Diese Frau hatte den Mut gefunden, sich bei mir zu outen, obwohl es sicher viel Überwindung kostete. Dann sagte

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

sie mir, wie einsam sie sich jetzt fühlt. Ich habe beschlossen, mir beim nächsten Mal Zeit zu nehmen. Vielleicht laden meine Partnerin und ich sie mal zum Kaffee ein (natürlich mit dem nötigen Abstand etc.). Ja, nach einem ziemlichen sch … Tag war das mein absolutes Highlight.

— Lovis Noah Cassaris (🏡) 🌱 (@lovis_cassaris) November 14, 2020

Die Geschichte hat viele User:innen berührt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben:

Das ist so wundervoll. Und traurig, so was zu Hören bricht einem das Herz, wobei meine Omas der einen Seite der Familie bis heute einem Teil der Familie erzählen, sie seien nur zwei Freundinnen, die keine Männer fanden…mit Ringen und gleichem Nachnamen😅

— Recoveryschickse (@RecoverySchicks) November 14, 2020

Eine großartige und auch traurige Geschichte. Die Tante meines Mannes, wäre jetzt über 90. Zu ihren Lebzeiten hatte sie eine Lebensgefährtin. Offiziell teilten sie sich ja „nur“ die Wohnung. Dank Lehrerinnenzölibat, kein Problem. Die Tante hat ihr Ding durchgezogen. 😀👍

— Anna Meyer (@vitaminfeminin) November 15, 2020

Oh wie traurig & schön 😭❤️
Ich kannte einen älteren Herren, der erzählte, dass er seinen Wunsch, eine Frau zu sein, erst nach dem Tod seiner Frau umsetzen konnte, weil sie es nicht verstanden hat & er sie geliebt hat. Ein paar Jahre lebte er noch so wie er es immer wollte. ❤️

— Sanna (@LettieSandrine) November 15, 2020

Thread: Jede Zärtlichkeit kann eine Gefahr sein